Was hat ein Teddybär und sein angenähtes Bein mit der Berliner Mauer zu tun?
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- Zuletzt aktualisiert: Montag, 24. Februar 2025 19:33
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Lesung für die 8. Klassen im Atrium unseres Gymnasiums in Zusammenarbeit mit dem ZSL sowie DDR-Museum Pforzheim
Am Montag, den 17. Februar 2025 hantierten zwei Personen, die offensichtlich nicht Teil der Reuchlin-Schulgemeinschaft waren, im Atrium mit Mikrophonen und anderen Gerätschaften. Wer mögen sie sein?
Gegen 9.50 Uhr wussten alle 8. Klassen sowie die Klasse 7a, die auf den Holzbänken Platz genommen hatten, mehr: Es handelte sich um die Schriftstellerin Maja Nielsen, die aus ihrem Jugendroman „Der Tunnelbauer“ vorlesen würde, und Joachim Neumann, dessen Lebensgeschichte (bzw. einen bedeutsamen Teil davon) sie in diesem erzählt.
Maja Nielsen las lebendig und fesselnd. Sehr schnell zog sie die Zuhörenden v.a. in die Lage der Studierenden in Ost- und West-Berlin, die vom Bau der Mauer am 13. August 1961 in eine völlig neue Lebenslage hineingestoßen wurden: Soll man in der DDR bleiben und das Leben dort akzeptieren? Wenn nicht, wie soll man die Mauer überwinden? Wie kann im Westen den Fluchtwilligen geholfen werden ? Wie kann man überhaupt über die Mauer hinweg kommunizieren? Wie soll das Leben weitergehen, wenn man im Westen studiert hat, nun aber dort nicht mehr hingelangt und im Osten nicht studieren darf? All diese Fragen stellte sich auch der damals 17-jährige Joachim Neumann. Heute ist er Mitte 80 und saß im Atrium. Links neben ihm war ein Foto projiziert, das ihn als jungen Mann zeigte.
Die Schriftstellerin Maja Nielsen hat in ihrem Roman entscheidende Momente von Joachim Neumanns Flucht und seiner anschließenden Fluchthelfer-Tätigkeit gestaltet. So stockte den Zuhörenden der Atem, als sie die Passage seines Grenzübertritts von Ost nach West vorlas: Freunde aus dem Westen haben ihm den echten Pass eines Schweizers ähnlichen Aussehens und Alters besorgt. Darauf, dass der Pass echt, aber der, der ihn vorzeigt, falsch ist, kommen die DDR-Grenzer in den ersten Wochen nach dem Mauerbau nicht. Neumann darf nur nichts reden, denn wie sich Schweizerdeutsch anhört, geschweige denn wie man es spricht, davon hat er keine Ahnung…
Im Anschluss an diese Romanstelle berichtete und erzählte Joachim Neumann selbst im Atrium davon, welche Fluchtmöglichkeiten noch im Herbst 1961 offen standen, wie diese aber immer weniger wurden.
Besonders eindrücklich war, dass sich der jungendliche Neumann nach seiner Ankunft in West-Berlin seiner zurückgebliebenen Freundin und seinen Freunden verpflichtet fühlte. Diese gerieten bald in die Fänge der Stasi. Für sie schloss er sich einer Gruppe in Westberlin an, die in Mauernähe Tunnel in den Ostteil Berlins gruben: Mindestens 145 Meter müssen sie lang sein. In Schichten und nur mit Spaten arbeitete er sich mit anderen jeden Tag mühsam vorwärts, denn sie hatten mit dem harten lehmartigen Erdreich und Rohrbrüchen zu kämpfen; ebenso wie mit der Angst entdeckt, verraten und von DDR-Spitzeln unterwandert zu werden. Auch die Angst, am Ende des Tunnels auf Stasi-Leute zu treffen, war ständiger Begleiter. Die Arbeit an einem Tunnel dauerte Monate, weiß Neumann zu berichten. Neben dem Studium machte er nichts anderes. Wir Zuhörenden machten uns unsere Gedanken, zu welcher Hingabe und zu welchem persönlichen Einsatz wir selbst bereit wären, wenn es die Lage erfordern würde. Wann beginnt eine Lage etwa von einem persönlich zu erfordern?
Die Schülerinnen und Schüler erfuhren von dem anschaulich erzählenden damaligen Tunnelbauer, dass er am sog. „Tunnel 29“ und „Tunnel 57“ mitgearbeitet hat. Die Zahlen geben an, wie viele Menschen durch den Tunnel von Ost nach West gelangten. Auch Rückschläge und Zweifel an der Loyalität mancher, die mit ihm gruben, sind Thema sowie die Sorge um seine Freundin, die in der DDR im Gefängnis saß. Sie hatte Neumann vor seiner Flucht einen Teddy gegeben; sein eines lädiertes Bein hatte sie angenäht. Der Teddy ist die einzige Verbindung zu ihr, bis …
Joachim Neumann holte eine kleine Stofftasche hervor und zeigte den Zuhörenden besagten Teddy. Bis zum Schluss der kurzweiligen Lesung saß das Stofftier auf dem Technik-Tisch. Dank seiner Symbolkraft und der zugänglichen Art der Autorin und ihres Zeitzeugen fiel es vielen Schülerinnen und Schülern am Ende der 4. Stunde leicht, ihre eigenen Fragen an Joachim Neumann zu richten. Auch diese, warum der ältere Herr solche Lesungen für Schüler:innen veranstalte, die in seinem Alter sicher auch anstrengend seien: Damit jüngere Menschen verstünden, wie es ist, in Zeiten zu leben, die weniger Demokratie und Freiheit bereithalten als die heutige in Deutschland.
Antje Unger